Rarae Aves In Terris
Photographien von DOC.TOM
„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust.“ (Goethe) Die eine, bodenständige Bewohnerin, heißt Medizin. Die andere, mit dem Kopf in den Wolken, nennt sich Photographie. Beide leben glücklich nebeneinander. Und über die zweite schreibe ich jetzt.
„Seltene Vögel auf Erden“ ist eine Auswahl meiner Photographien von den Anfängen 1993 bis 2017.
Mein erstes Kunstwerk entstand, als ich als 9-Jähriger die Schule schwänzte, um eine Abenteuergeschichte zu schreiben. Ein Bild der beiden Protagonisten sollte das Werk illustrieren. Ich stellte also zwei Gliederpuppen, eine Art Action-Kens, in Kämpferpose auf den gemusterten Teppich und photographierte das Szenario mit einer Balgen-Camera meiner Urgroßmutter auf Mittelformat, ohne irgendeine Ahnung zu haben, wofür all die Hebel, Knöpfe und Ringe gut sein sollten. Das Ergebnis war dementsprechend wenig überzeugend.
Richtig begonnen hat meine Passion für die Photographie dann nach dem Mauerfall. Ich war damals Anfang zwanzig, die sinnlose Verschwendung von Lebenszeit bei der Armee war Geschichte und die Welt stand mir offen. Generell war es eine Zeit der Visionen, der Hoffnung, des Abenteuers. Die Mauer war also gefallen, die Konfrontation zwischen Ost und West der Entspannung gewichen, Mandela aus der Haft entlassen – alles, so schien es damals, wurde wieder gut. Und es folgte die Zeit des grenzenlosen Reisens. Damit wurde die Sicht auf neue, spannende Bilder frei. Die ersten Exkursionen und die nun verfügbare bessere Phototechnik waren der Beginn meiner Photographie-Geschichte. Und um Geschichten ging und geht es bei meinen Bildern immer wieder. Das ist auch der erste Eindruck, den viele Betrachter meiner Aufnahmen bekommen. Jedes Bild sei „so eine ganze, in sich geschlossene Geschichte“. Und die habe ich, am Anfang offensichtlich eher unbewusst, auch erzählen wollen. Ebenso sind die Geschichten hinter den Geschichten, also das „Making -of“, Teil des Gesamtkonzeptes. Wie ist die Idee entstanden, was oder wer hat mich inspiriert? Für welches Projekt sind die Photographien gemacht worden? Wie wurden die Sessions organisiert und wie photographiert? Da die meisten Inszenierungen noch analog photographiert wurden, musste ich teilweise tief in die Kiste der absurden Tricks greifen (!"Text ALLEGORIE FÜR EINEN WINTERTAG, DER STAND DER DINGE), denn komplexe Nachbearbeitungen oder gar Collagen im Labor hätten meine Grundidee konterkariert. Aber auch nachdem ich 2007 anfing, digital zu photographieren, ist es mir nie in den Sinn gekommen, am Computer irgendetwas einzubauen oder zu entfernen (abgesehen von kleineren Retuschen).
Neben einige der Photographien habe ich deren Geschichte (!" Text) geschrieben: mal nur kurze Bemerkungen, mal habe ich etwas weiter ausgeholt. Im letzten Kapitel „The Making of“ sind ein paar Schnappschüsse rund um die Sessions zu finden.
Erste Aufnahmen, die ich für zeigenswert hielt, entstanden 1992 auf einer Reise von Deutschland durch Südeuropa, den Nahen Osten bis nach Nordafrika. (Ich reiste mit Freunden in einem 200-DM-Ford von Erfurt nach Kairo, über drei Kontinente durch neun Länder in 4 Wochen.) Der Überfluss an Motiven auf dieser Tour war schon fast quälend, denn man photographierte ja analog und musste mit seinem Filmmaterial haushalten. Zum anderen konnte ich es meinen Freunden nicht zumuten, ständig Photo-Stopps einzulegen.
Zurück in Deutschland, machte ich mit ersten „Konzept-Photos“ weiter, die sich aber als überwiegend viel zu verspielte, überladene Inszenierungen erwiesen; also eher konzeptlos. Einigermaßen brauchbar waren hier nur DER QUERULANT (!" Text), das älteste Photo in diesem Portfolio, und BRECHT von 1993.
In diesem Jahr eröffnete ich auch meine erste Ausstellung unter dem Pseudonym „Wilbury“, um bei einem Fehlschlag weitgehend unbehelligt davonzukommen. Aber das Publikum war mir wohlgesonnen. Als Gag mischte ich ein photorealistisches Bild eines Brillengestells (das ich mit Aquarellfarben gemalt hatte) unter die Photos. Das wurde zuerst verkauft.
Ein Jahr später machte ich u. a. eine meiner erfolgreichsten Photographien, SACHSEN-ANHALT BRASS, sowie THE LADY WHO SAID SHE COULD FLY in Mailand und eine New-York-Serie (u. a. DRIVERS BREAK, IN THE EYE OF THE STORM und ONCE UPON A TIME IN BROOKLYN). 1995 war ein photographisch intensives Jahr. Es fing mit der Paris-Serie im Winter an (u. a. LA CONVERSATION, LA MERE E LA FILLE, LE FURIEUX TAILLEUR), später kamen die surrealen Inszenierungen ALLEGORIE FÜR EINEN WINTERTAG, BREAK ON THROUGH, DER IGNORANT und viele andere hinzu. Ich hatte Lust! Auch darauf, weiter Ausstellungen zu gestalten, mit seltsamen Titeln (GOLKONDA, NADELN IM AUGE DES KAMELS, VON QUERULANTEN UND FLIEGENDEN FRÄCKEN usw.) Die Vernissagen waren amüsante und interessante Gelegenheiten, die Reaktion der Besucher zu beobachten und neue Kontakte zu knüpfen. Dirk Zöllner gefielen meine Photographien, und so bekam ich die Gelegenheit, fast das gesamte „Die Zöllner“-Album „Goodbye Cherie“ photographisch zu gestalten (das Band-Photo inszenierte Jim Rakete). Über Dirk Zöllner lernte ich dann auch Dirk Michaelis („Als ich fortging“) und André Herzberg (Gruppe „Pankow“) kennen. Diese drei produzierten und tourten später als „Die Drei Highligen“. Für dieses Projekt photographierte ich das Coverbild und porträtierte die drei Musiker. Dirk Michaelis gestaltete mit den Photos der Session auch sein Best-of-Album „Adagio“. Die Inszenierungen AHASVER, PASTORALE und RARA AVIS IN TERRIS gehören auch heute noch zu meinen persönlichen Favoriten. Dazu kamen später wunderbar kreative Photo-Sessions mit Dirk Zöllners Parallel- Projekten „Zonaluna“ (DER STAND DER DINGE, THE STORY OF PHINEAS GAGE), Trio Bravo (ODESSA), Osten.de (mit IC Falkenberg) und „Der Wilde Garten“ u. a. mit den Musikern von „City“. Diese Schnittstelle von Musik und Bildern, das photographische Interpretieren von Musik, das Inszenieren von Musikern, das Gestalten von Albumcovers ist für mich die spannendste Seite meiner Arbeit. Möglicherweise eine Kompensation meiner Unfähigkeit, ein Instrument zu spielen, obwohl Musik eine große Rolle in meinen Bildern und in meinem realen Leben spielt.
Da ich über kein Studio verfüge, mich wenig mit künstlichem Licht beschäftige und zudem ohne Team arbeite (Ausnahme: THE RED ROSES RAIN PROJECT) waren verlassene Fabrikhallen mit ihrem diffusen Licht durch die verstaubten Glasdächer ideal für meine Sessions (!"Kapitel „Making of“). Diese haben aber den Nachteil, dass dort meist wenig kunstsinnige Wachdienste patrouillieren und die Sessions wetterabhängig sind. Beide Faktoren machen diese Außeneinsätze immer wieder schwer kalkulierbar, oder positiv ausgedrückt: spannend. Und sorgen im Nachhinein für eine gute Geschichte und Erheiterung.
Nachdem ich mich also viele Jahre mehr mit Seele Nr. 2 beschäftigt hatte, war es an der Zeit, sich wieder Seele Nr. 1 zuzuwenden und eine Praxis zu gründen. Ich legte eine Photo-Pause ein, von 2002 bis 2014, und photographierte nur auf Reisen (u. a. AUF DEM WEG NACH ISFAHAN, SHORTCUT, PEACE).
Doch irgendwann vermisste ich die Kunst! Ich hatte wieder Lust! Aber auf einen etwas anderen Stil. Sambia im südlichen Afrika ist seit längerer Zeit meine zweite Heimat. Inspiriert durch die Schönheit der Menschen, die lebensbejahenden kräftigen Farben der Kleidung und die Schönheit der Landschaft fing ich an, mich mit Fashion-Photographie zu beschäftigen. Ich nahm Kontakt zu sambischen Modedesignern auf, suchte nach interessanten Models und passenden Backgrounds (THE SIAVONGA FASHION SESSIONS). Dann begann ich, die Modephotographie zu inszenieren, kleine Stories zu erzählen. Bilder komponierte ich aus mit – um einmal die beeindruckenden professionellen Photo-Termini zu bemühen – People, Fashion, Landscapes und Conceptional Art Photography. Diese Rezeptur konnte ich dann noch mit Musik verfeinern in THE RED ROSES RAIN PROJECT (!Text). Ich habe hier Debbie alias Bwana Dee, die als Sängerin und Modedesignerin in Sambia populär ist, für ein R’n‘B-Album und für das Advertising ihrer Fashion Shows in Szene gesetzt. Da ich ein großer Fan von Album-Cover-Art bin, aber meine grafik-designerischen Vorstellungen nicht immer bei Plattenlabels oder Künstlern durchsetzen konnte, habe ich mir einfach meine eigenen Musiker und Bands und deren Albumtitel ersponnen und die Cover nach meinem Gusto gestaltet. Was für ein Spaß! (!"Kapitel Album-Cover- Entwürfe)
What ́s next? Unter dem Arbeitstitel „One Zambia, one nation!“ habe ich begonnen, Sambier verschiedenster Herkunft und Religion, unterschiedlichster Berufe und Volksstämme zu porträtieren. Mit einem „smiling face“. Der Hintergrund: Sambia ist eines der wenigen Länder Afrikas, in dem es nie einen Bürgerkrieg gab, obwohl in ihm 72 Volksstämme leben. Und es wird viel gelacht. Auf diesem Wege lerne ich neue Menschen kennen, und die erzählen mir dann ihre Geschichte ...
DOC.TOM alias Dr. Thomas Riechert
____
Rarae Aves In Terris
Photographs by DOC.TOM
“Two souls, alas!, are dwelling in my breast”. The first, my earthly soul, known as The Medic. The other, its head always in the clouds is Photography. Both happily coexist. This book is about the latter.
“Rare Birds Upon The Earth” („Seltene Vögel auf Erden“/Rara Avis En Terra) is a selection of my photos from the beginnings in 1993 through 2017.
When I was nine, I created my first work of art when I skipped school to write an adventure. I wanted to illustrate the story with a picture of both protagonists. I placed two action figures, similar to Action-Kens, in fighting poses onto a patterned carpet. With no clue as to what the levers, buttons, and rings were for, I then took pictures of the scene with my great-grandmother’s ancient, medium format folding camera. Hardly surprising, the result was not very convincing.
My real passion for photography took off properly after the fall of the Wall. I was in my early twenties, a lifetime wasted in the army was history, and the world was my oyster. It was a time of vision, of hope, of adventure. The Wall was gone, tensions between East and West were easing, Mandela had been released from prison – things, it seemed, would be finally be ok again.
What followed for me was a time of boundless travel which opened up my perspective to new, exciting imagery. My first trips, and the much-improved photo technology now available, marked the beginning of my photography story. Time and time again, stories were and are what my pictures are about. That is also the first impression many people get when they see my photos. To them, every photograph is “a complete, self-enclosed story.” And it feels obvious that this is what I unintentionally strove for. Similarly, the stories behind the stories, the “making of”, are also part of the overall concept. How did the idea come about, what or who inspired me? Which photographs were created for which project? How were the sessions organized, and how were the photos taken?
Since the majority of the scenes were photographed using an analogue camera, I sometimes had to dig deep into my bag of tricks (→Allegorie für einen Wintertag [Allegory for a Winter’s Day], Der Stand der Dinge [The State of Affairs]), as complex post-production editing or out-of-lab collages would have gone against the fundamental concept of the project.Even after I switched to digital photography in 2007, it would never have occurred to me to alter anything during computer post-production, apart from minor retouches.
I have put the stories next to some of the photographs (“→Text”). At times they are just short comments, sometimes I went into more detail. The last chapter “The Making Of” includes several snapshots of the sessions themselves.
The first photos I felt were worth showing were taken in 1992 on a trip from Germany to Southern Europe, the Middle East, and North Africa. I was traveling with friends in a 200-Deutschmark Ford from Erfurt to Cairo, across three continents, visiting nine countries in four weeks. The abundance of motifs on this trip was absolute torture because analogue photography requires one to greatly economize on film. On the other hand, I did not want to keep asking my friends to make photo stops. Back in Germany, I continued with the initial “concept photos”, but these were largely overtly playful stagings without concrete concept. Only DER QUERULANT [THE MALCONTENT] (→Text), the oldest photo in this series, and BRECHT, from 1993, were reasonably useful here.
That was the year of the opening of my first solo exhibition, for which I used the alias “Wilbury” in order to avoid the spotlight in the event of my failure. The audience, however, took a shine to me. As a joke, I mixed a photorealistic photo of an eyeglass frame, which I had painted in watercolors, in with the photos. This was the first photo sold. A year later I shot some of my most successful work, SACHSEN ANHALT BRASS, and THE LADY WHO SAID SHE COULD FLY shot in Milan, and a New York series (incl. DRIVERS BREAK, IN THE EYE OF THE STORM and ONCE UPON A TIME IN BROOKLYN), respectively.
1995 was an intense year for my photography. It started with the Paris series that winter (incl. LA CONVERSATION, La mere e la fille, Le furieux Tailleur), followed by the surreal productions Allegorie für einen Wintertag [Allegorical Staging for a Winter’s Day], Break on Through, Der Ignorant [The Ignoramus] among others. I was on a roll! I also wanted to continue putting on exhibitions with strange titles (GOLKONDA, NADELN IM AUGE DES KAMELS [NEEDLES IN THE CAMEL’S EYE]), VON QUERULANTEN UND FLIEGENDEN FRÄCKEN [OF MALCONTENTS AND FLYING TAILCOATS] etc.). These openings were fun, interesting opportunities for establishing new contacts and for observing viewer reaction to my work. Dirk Zöllner liked my work, and I got the opportunity to do almost the whole "Goodbye Cherie" album by the band "Die Zöllner" (the band photo was staged by Jim Rakete). Through Dirk Zöllner, I later met Dirk Michaelis ("Als ich fortging" [As I was leaving]) and André Herzberg (Pankow). These three went on to produce and tour under the project name "Die Drei Highligen" [German pun on ‘being high’ and the ‘three wise men’]. I did the cover for this project and shot portraits of the members. Dirk Michaelis also created his Best-Of album "Adagio" with the photos from our session. The installations AHASVER, PASTORALE and RARAE AVIS IN TERRIS are still among my personal favorites. What followed were wonderfully-creative photo sessions, with Dirk Zöllner simultaneously running projects "Zonaluna" (Der Stand der Dinge [The State of Affairs], The Story of Phineas Gage), Trio Bravo (ODESSA), Osten.de (with IC Falkenberg) and "Der Wilde Garten" [The Wild Garden], which included the musicians from the band "City". For me, the most exciting part of my work is this intersection of music and images; the interpretation of music through photography, the staging of musicians, and the design of album covers. It is possible that I use photography to compensate for my inability to play an instrument, although music plays a large role in my photography and everyday life.
The abandoned factory halls, with their diffuse light shining through dusty glass roofs, were ideal for my sessions (→Chapter "Making of"), since I do not have a photo studio, rarely use artificial lighting, and work without a team. The disadvantage of such locations is, however, that the security staff is not typically artistically-minded, and that the sessions are dependent on the weather. While both factors make such outdoor assignments difficult to plan, they can also be very exciting. They make for a good story later on and provide some amusement.
After many years of focusing on my second soul, it was finally time to return my attention to medicine, and establish a practice. I took a photo break from 2002 to 2014 and kept shooting photos only when I was travelling (e.g. ON THE WAY TO ISFAHAN, SHORTCUT, PEACE). At a certain point I started missing my art! Once again, I got my groove back!
But I felt like going for a slightly different style. Zambia in southern Africa has been my second home for a long time. Inspired by the beauty of its people, the life-affirming strong colors of the clothes and beauty of the landscape, I started focusing on fashion photography. I contacted Zambian fashion designers and started looking for interesting models and suitable backgrounds (THE SIAVONGA FASHION SESSIONS). I then went on to stage fashion photography shoots, and to tell little stories: Photos composed of – to try out some impressive professional photo terminology – People, Fashion, Landscapes and Conceptual Art Photography. I refined this recipe by adding music to the mix in THE RED ROSES RAIN PROJECT (→Text). I was able to set the scene for Debbie, aka Bwana Dee, a popular Zambian singer and fashion designer, to promote her R’n’B album and fashion shows.
I am a big fan of album cover art, but my graphic design ideas do not always resonate with record labels or artists: So I simply started inventing my own musicians and bands, and went on to design their album covers according to my taste. Such fun! (→ Chapter Album Cover Designs)
What´s next? The working title of my next series is "One Zambia, One Nation", in which I began to portray Zambians of different origins, religions, professions and tribes. Always with a “smiling face”. The background: Zambia is one of the few African countries that has never been plagued by civil war, despite the 72 tribes that live here. And there is always laughter.
This is how I get to know new people and get them to tell me their story...
DOC.TOM aka Dr. Thomas Riechert